Aus dem täglichen Leben wissen wir, daß man mit Hilfe von Glaslinsen (Brille!) die Richtung von Lichtstrahlen verändern kann: bei gegebener Fehlsichtigkeit und Brechungsindex der Gläser wählt man den Schliff und die Dicke der Gläser so, daß ein ins Auge einfallendes Lichtbündel wieder auf der Netzhaut fokusiert werden kann. Wer die Welt mit anderen Augen sehen will, dreht seine Brille um, schaut schräg hindurch und sieht alles verzerrt. Nur wenige haben das Glück mit einer Fata Morgana die spektakulärste Auswirkung der Lichtbrechung auf der Erde zu erleben: ein räumlich veränderlicher Brechungsindex der Luft bewirkt, daß sich Lichtstrahlen dort nicht geradlinig ausbreiten sondern auf gekrümmten Bahnen - und die rettende Oase ist nicht dort wo man sie sieht, sondern in einer anderen Richtung oder hinter den Bergen versteckt.
Außerhalb der Atmosphäre von Planeten und Sternen stellt der Raum ein fast perfektes Vakuum dar. Folglich müßte sich das Licht dort völlig geradlinig ausbreiten. Daß dies nicht stimmt, hat bereits 1801 der Gründer der Münchner Sternwarte, Prof. J. Soldner, vermutet. Er interpretierte den Lichtstrahl als Bahn eines klassischen Teilchens. Nach den Gesetzen der Mechanik wird ein solches Teilchen im Schwerefeld eines Himmelskörpers abgelenkt. Die Größe der Ablenkung hängt nicht von der Masse des Teilchens sondern nur von seiner Geschwindigkeit ab. Soldner erhielt einen Wert für die Lichtablenkung, indem er die Teilchengeschwindigkeit durch die Lichtgeschwindigkeit ersetzte. Einstein bestätigte 1911 zunächst Soldners Wert und fand erst 1915 nach Entwicklung seiner Allgemeinen Relativitätstheorie, daß der wahre Wert einen Faktor zwei höher war. Ein massiver Himmelskörper in der Nähe der Sichtlinie zwischen uns und einer Quelle wirkt wie ein lokale Erhöhung des Brechungsindex und wird daher als Gravitationslinse bezeichnet. Die Wirkung ist umso höher, je größer die Masse des Himmelskörpers ist und je näher der Lichtstrahl der Quelle an ihm vorbei geht; die Sonne lenkt an ihrem Rand den Lichtstrahl einer dahinter liegenden Quelle (z.B. eines anderen Sterns) um 1.7 Bogensekunden ab.
Einzelne Sterne führen nur selten zu spektakulären Linseneffekten
(siehe Mikrolinseneffekt). Jedoch ermöglicht die kollektive
Lichtablenkung von bis zu 100 Milliarden Sternen in einer Galaxie und
ihre dunklen Materie das Auftreten sogenannter `starker
Linseneffekte', z.B. die mehrmalige Abbildung einer dahinter liegenden
Quelle. Als Beispiel ist das sogenannte
Einsteinkreuz
dargestellt. Ein weitentfernter Quasar [QSO 2237+0305] mit
Rotverschiebung 1.69 wird durch den Linseneffekt einer
Vordergrundgalaxie mit Rotverschiebung 0.039 in vier Bilder
verschiedener Helligkeit abgebildet. Das Zentrum der linsenden Galaxie
befindet sich in der Mitte der vier Bilder (zentraler weißer Fleck)
und bildet mit diesen ein Kreuz. Die Masse in dem Kreis, der diese 4
Quasarbilder einschließt, muß gleich der von 20 Milliarden
Sonnen sein, um die beobachtete Bildaufspaltung (1.8 Bogensekunden) zu
erklären. Ohne die linsende Vordergrundgalaxie würde man den
Quasar nur einmal sehen, und zwar ungefähr in der Mitte der vier
Bilder.
Nur etwa einer von 100 hellen Quasaren wird durch den Linseneffekt einer Vordergrundgalaxie mehrfach abgebildet. Denn dazu muß eine Galaxie in unmittelbarer Nähe der Sichtlinie zwischen uns und dem Quasar liegen. Ist die Galaxie zu weit weg davon, wird die Lichtablenkung zu schwach um Mehrfachbilder zu erzeugen.
Genauso wie viele Sterne zusammen mit der dunklen Materie einer
Galaxie kollektiv den Linseneffekt dieser Galaxie hervorrufen,
verhält es sich mit Galaxien in einem Galaxienhaufen: die
Lichtablenkung eines Galaxienhaufens setzt sich durch die
Linsenwirkung aller seiner Galaxien und seines großen Anteils an
dunkler Materie zusammen. In Figur ist dazu eine Aufnahme des
Galaxienhaufens Abell 2218 mit dem Hubble-Weltraum-Teleskop
gezeigt. Wie man durch spektroskopische Bestimmung der
Rotverschiebungen (und damit Entfernungen) zeigen kann, sind die
großen und hellen Galaxien Mitglieder des Galaxienhaufens bei der
Rotverschiebung 0.175, und die meisten kleinen Galaxien befinden sich
bei einer höheren Rotverschiebung (also größeren Entfernung),
und ihr Licht ist durch den dazwischenliegenden Galaxienhaufen
abgelenkt worden. Manche dieser Bilder von Hintergrundgalaxien
verändern dadurch ihr Aussehen, werden verzerrt zu dünnen,
länglichen und gekrümmten Objekten. Beispiele für solche Bögen
(`Arcs') sind in der Figur mit den Zahlen 730, 359 und 144
gekennzeichnet. Sie kommen dadurch zustande, daß 2 oder 3
Mehrfachbilder einer Quelle so nahe beieinander liegen, daß sie
miteinander verschmelzen. Gleichzeitig werden diese Bögen dadurch
viel heller als es die ungelinste Quelle wäre. Wie unscheinbar die
gelinsten Galaxien in Abwesenheit des Linseneffektes erschienen, kann man
am Vergleich von 384 und 468 sehen: diese Objekte sind Bilder
derselben Galaxie. Das Objekt 384 ist eine Verschmelzung zweier
Bilder, während das Objekt 468 ein kaum verzerrtes Bild derselben
Quelle darstellt. Die Objekte H1 bis H6 sind ein sechsfaches Bild
einer anderen Quelle.
Der Nutzen solcher Beobachtungen besteht darin, daß man damit die Massenverteilung im Zentrum von Galaxienhaufen detailliert untersuchen kann. Insbesondere mißt man damit, wieviel der gesamten Materie in Form von dunkler Materie vorliegen muß, und ob die schwersten Galaxien auch dort sind wo die meiste dunkle Materie ist.
Mit dem Linseneffekt lernen wir nicht nur etwas über die Materieverteilungen in Galaxien und Galaxienhaufen, sondern wir benutzen diese auch als kostenlose - allerdings nicht verstellbare - Teleskope. Wie man an den leuchtenden Bögen im Figur sehen kann, werden Hintergrundobjekte nicht nur verzerrt sondern auch größer und damit insgesamt heller. Die natürlichen Teleskope erleichtern es uns damit, intrinsisch kleine und schwache Objekte zu untersuchen.
Allerdings kann uns der Linseneffekt manchmal auch in die
Irre führen, was am Beispiel des Galaxienhaufens
MS1512+36 erklärt werden soll.
Die flächenmäßig größte Galaxie in der Mitte und die mit E
und DB bezeichneten Galaxien sind Mitglieder des Galaxienhaufens bei
einer Rotverschiebung von 0.37, die Spirale S befindet sich im
Vordergrund, und genauso wie im Bild von A2218 sind
die meisten der schwachen
und kleinen Objekte bei einer größeren Entfernung, also `hinter' dem
Galaxienhaufen. Die mit cB58/A1 gekennzeichnete Galaxie tanzt aus der
Reihe: Sie hat eine Rotverschiebung von 2.7, also eine ernorme Distanz
von uns ist und dabei fast so hell und fast so groß wie die zentrale
Galaxie des viel näheren Galaxienhaufens. Wir haben uns daher an der
Sternwarte die Frage gestellt, ob die Galaxie vielleicht nur aufgrund
eines Linseneffektes so hell und groß erscheint und den
Galaxienhaufen MS1512+36 im Detail untersucht. In der Tat stellten wir
fest, daß der Galaxienhaufen massiv genug ist, um
Hintergrundgalaxien mehrfach abzubilden: B1,B2,B3 und C1,C2,C3 sind
Bilder von jeweils
dreifach abgebildeten Galaxien, und W1,W2,W3,WC sind vier Mitglieder
eines fünffach-Bildes. Die Lichtverteilung der Galaxie cB58 zeigt
uns, daß dies ein wenig gekrümmter Bogen ist, der durch
Verschmelzung zweier Bilder zustande kommt. Als drittes Bild derselben
Quelle haben wir außerdem das Bild A2 identifiziert. Dieses Bild A2
ist immer noch heller und größer als die zugehörige Quelle und
läßt erahnen, wie unaufällig die gemeinsame Quelle von cB58
und A2 in Abwesenheit des Linseneffektes aussähe.
Leider sind Galaxienhaufen, wenn überhaupt, höchstens im Zentrum massiv genug, um Mehrfachbildern und Bögen zu erzeugen. Mit ihrer Analyse kann man folglich nur eine beschränkte Gruppe von Galaxienhaufen und diese nur in ihren Zentren untersuchen. Sieht man das Bild von A2218 mit zusammengekniffenen Augen an, erkennt man, daß auch die vielen kleinen Hintergrundgalaxien keine zufällige Ausrichtung besitzen, sondern daß ihre Hauptachse meistens tangential zu den beiden Haufenzentren angeordnet ist. Diese Verzerrung der Galaxienbilder kommt ebenfalls durch den Gravitationslinseneffekt zustande, und weil er weniger spektakulär als die leuchtenden Bögen ist, wird er als `schwacher Linseneffekt' bezeichnet. Wenn alle Galaxien intrinsisch rund wären, könnte man aufgrund der beobachteten Form ihrer Bilder schon direkt auf die Massenverteilung im Galaxienhaufen zurückschließen. Weil sie jedoch intrinsisch schon elliptisch sind, kann man diese Information nur mit statistischen Methoden erhalten. Die Figur erläutert das Prinzip. In einer Simulation wurde hier nachvollzogen, wie elliptische Galaxien gleicher Größe ohne eine intrinsische Vorzugsrichtung durch den Linseneffekt eines Galaxienhaufens verzerrt werden. Sowohl die Elliptizität als auch die Größe der Galaxienbilder (blau) nimmt zur Bildmitte, dem Haufenzentrum, hin zu. Mit den grünen Strichen ist die lokal gemittelte Elliptizität der Galaxienbilder eingezeichnet: die Strichrichtung und Strichlänge zeigen die mittlere Galaxienrichtung und die Größe ihrer mittleren Elliptizität an. Diese gemittelten Elliptizitäten sind ein Indikator für die entlang der Sichtlinie projizierte Massendichte des Galaxienhaufens.
Für den Galaxienhaufen Cl0939+4713
wurde mit Hilfe der mittleren
Verzerrung der Hintergrundgalaxien die
Flächenmassendichte rekonstruiert.
Die verwendeten Daten stammen von der Kamera (WFPC-2) des reparierten
Hubble-Teleskops. Die Kamera besteht aus vier CCD-Chips, die
von links unten ausgehend entgegen dem Uhrzeigersinn numeriert sind. Der
vierte Chip (oben links) besitzt aus finanziellen Gründen nur ein
Viertel der Fläche der anderen Chips. Die Daten auf diesem
Chip sind für unsere Massenrekonstruktionen weitgehend
unbrauchbar und daher überdeckt die
Rekonstruktion nur
die drei `normalen' Chips.
Das Maximum der Flächenmassendichte in Chip 1 fällt mit den drei hellen und damit massiven Galaxien zusammen, während am Minimum (zwischen Chip 2 und 3) nur wenige und lichtschwache Haufenmitglieder sichtbar sind. Somit zeigt uns diese Arbeit von C. Seitz und Kollegen, daß für diesen Galaxienhaufen gilt: `wo viel Licht ist, ist auch viel dunkle Materie'.
Zusammenfassend tritt Lichtablenkung nicht nur auf der Erde, sondern im
gesamten Kosmos auf: Quasare und Galaxien werden mehrfach abgebildet,
Galaxien werden verzerrt und im Extremfall in leuchtende Bögen
abgebildet. Durch Beobachtung dieser Effekte erfahren wir Neues über die
Massenverteilungen in Galaxien und Galaxienhaufen, über die
Eigenschaften von Quasaren und Galaxien, und wir erhalten
Informationen über die Größe
und den gesamten Materieinhalt unseres Universums.